Karl Snell (1806 – 1886)

snellKarl Snell wurde am 19. Januar 1806 in Dachsenhausen im Nassauischen geboren. Sein Vater und schon sein Grossvater waren dort Pastoren. Er besuchte von 1817 bis 1823 das Gymnasium zu Wetzlar und studierte von 1823 bis 1829 in Halle, Giessen, Göttingen und Berlin, anfangs Philologie, später ausschliesslich Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie. Ein Onkel von ihm scheint sein Interesse schon früh auf das philosophische Gebiet gelenkt zu haben. Nach seinem Doktorexamen ging Snell nach Dresden, wo er als Lehrer für Mathematik und Physik unter anderem am städtischen Gymnasium wirkte. Seine Vorstellungen über die Ziele der pädagogischen Arbeit fanden ihren Niederschlag in den beiden Publikationen »Skizze einer philosophischen Begründung des Gymnasialunterrichts« (1832) und »Über Zweck und Einrichtung eines Realgymnasiums« (1824). 1842 zog sich Snell aus dem Schuldienst zurück, um als Privatgelehrter mehr Zeit für eigene Interessen und Arbeiten zu finden.

Auf mathematischem Gebiet war 1831 bei Brockhaus sein »Lehrbuch der Geometrie« erschienen, das dann mehrere Auflagen erreichte. Eine ganz andere Seite seines Erkenntnisbemühens tritt in den »Philosophischen Betrachtungen der Natur« (1839) zutage. Die Kapitel über »Das Vorkommen und die Bedeutung des Giftes in der Natur« und »Grundlinien einer philosophischen Lehre von den Mineralien« führen in eine neue Art der Naturbetrachtung ein, wie sie eigentlich kaum jemand vor oder auch nach Snell in so eindrucksvoller Weise geübt hat. Von den Phänomenen ausgehend, bringt er die einzelnen Erscheinungen in einen inneren Zusammenhang und hebt sie in den ideellen Bereich, wobei ein wesenhaftes Bild von den Naturtatsachen entsteht, in welchem der Gegensatz von Natur und Geist aufgehoben ist. Die Methode und die Ergebnisse Snells lassen sich nicht in kurzem beschreiben; man muss sich, um mit ihnen vertraut zu werden, unmittelbar mit seinen Schriften befassen. In der Abhandlung »Über das Wesen und die Eigentümlichkeiten der nächtlichen Tiere« (1847) behandelt er in entsprechender Weise ein zoologisches Thema. Er führt aus, dass Gestalteigentümlichkeiten der Tiere in Analogie zu bestimmten seelischen Eigenschaften der Menschen stehen. Die mancherlei absurden Eigenschaften der nächtlichen Tiere (z.B. der Fledermäuse) erscheinen in Snells Darstellung als ein nach aussen geworfenes Bild dessen, was sich beim Menschen in den nächtlichen Traumphantasmen seines Seelenlebens darstellt.

Das Privatgelehrtendasein währte nicht lange. 1844 wird Snell als ordentlicher Professor der Mathematik und der Physik an die Universität Jena berufen, wo er nun eine anstrengende doppelte Lehrtätigkeit ausübt. In Zusammenhang mit derselben entsteht die in zwei Bänden erscheinende »Einleitung in die Differential- und lntegralrechnung« (1846 und 1851). Eine bleibende Bedeutung kommt der 1858 erschienenen Schrift »Zur Streitfrage des Materialismus« zu – und dann vor allem der für die Evolutionslehre bedeutsame »Schöpfung des Menschen« (1863).

Snell konnte in Jena ein geräumiges Haus erwerben, in dessen Hof ein der Universität gehörendes schuppenartiges Gebäude, das »Laboratorium« stand. Im letzteren waren mancherlei physikalische Instrumente und Apparate untergebracht; auch diente es für physikalische Kurse.

Von den Schülern Snells hat einer in der Folgezeit grosse Berühmtheit erlangt: Ernst Abbe, der spätere Mitbegründer der Zeiss-Werke und der Begründer der Zeiss-Stiftung. Snell hat die besondere Begabung des Studenten früh erkannt und ihn, wo er konnte, gefördert. Auch war es Snell, der darauf drängte, dass Abbe nach abgeschlossenem Studium als Dozent und späterer Professor im Jahre 1863 an die Universität Jena berufen wurde. Der Biograph Abbes schreibt, dass Snell auf den jungen Abbe »zweifelsohne den grössten und nachhaltigsten Einfluss ausgeübt habe«. Im Lauf der Jahre bildete sich ein väterlich-freundliches Verhältnis von Snell zu Abbe aus. Im Jahre 1873 nahm Ernst Abbe Snells Tochter Elise, die jüngste der drei Snell-Töchter zur Frau, und das junge Paar zog zunächst in das geräumige Haus von Snell ein. Durch seine zahlreichen Entdeckungen auf optischem Gebiet, insbesondere aber durch die Begründung der Zeiss-Stiftung im Jahre 1891, die eine soziale Tat ersten Ranges war, ist Abbe zu einer weit berühmten Persönlichkeit geworden.

Im Jena der sechziger und siebziger Jahre gab es mehrere wissenschaftliche Zirkel: einen philosophischen in der Nachfolge Kants und Hegels, dem z.B. Kuno Fischer und Fortlage angehörten, einen naturphilosophischen, dessen Hauptvertreter Snell war, und einen naturwissenschaftlichen, in dem Haeckel und Gegenbaur führend waren. Der naturphilosophische Zirkel hatte etwas Vermittelndes und zog auch manche der jungen Naturwissenschaftler an. Die Zoologen Anton Dohrn und Nikolaus Kleinenberg waren zwar begeisterte Anhänger der Entwicklungslehre, schlossen sich jedoch dem Kreise um Snell an, weil – wie F. Auerbach berichtet – bei Haeckel und Gegenbaur »auch in speziellen Fällen kein Widerspruch geduldet wurde«. Manche weitere junge Wissenschaftler, die später Bedeutendes leisteten, verkehrten ebenfalls im Hause Snell, so der Physiologe Wilhelm Preyer, der Botaniker Strasburger, die Gebrüder Hertwig, der Germanist Sievers u.a… In diesem Kreis wurde auch viel musiziert, wobei Snells Tochter Elise als gute Klavierspielerin in Erscheinung trat.

Es ist anzunehmen, dass in den Gesprächen und Diskussionen dieses Zirkels Snells Ideen zur Evolution des Menschen, ebenso auch seine Forderung, dass Empirie und Philosophie stets Hand in Hand arbeiten müssten, eine wesentliche Rolle gespielt haben. Offenbar fand sich aber niemand, dem es gegeben war, die von Snell ausgehenden Impulse und Keimgedanken weiterzuführen. Den Siegeszug, den der Materialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts antrat, schien nichts mehr aufhalten zu können.

Es bleibt zu vermerken, dass Karl Snell im Jahre 1853 vom Grossherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach zum Hofrat, später zum Geheimen Hofrat ernannt worden ist.

Ab 1877 wurde durch zunehmende Kränklichkeit das öffentliche Wirken von Snell erschwert und sein Verkehr mit der wissenschaftlichen Umwelt immer mehr eingeschränkt. Am 12. August 1886 ist er im Alter von 81 Jahren verstorben. Die noch unabgeschlossenen Manuskripte seiner »Vorlesungen über die Abstammung des Menschen«, die er Weihnachten 1877 ebenfalls abbrechen musste, wurden auf Wunsch des Verstorbenen an Rudolf Seydel zur Zusammenstellung und Herausgabe übergeben, der dieser Aufgabe bereits 1887 nachgekommen ist.