Briefwechsel über den Regenbogen

2. Erwiderung (Fortsetzung zu Goethe an Sulpiz -Boisserée)

Die Glaskugel, verehrtester Freund, steht nun schon seit vielen Tagen vor meinen Augen, und ich habe noch nicht dazu gelangen können, Ihnen zu sagen, was ich darin gesehen.

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Ihrem Rat gemäß habe ich sie bei gewöhnlichem Tageslicht wie bei Sonnen- und Kerzenlicht vielfach betrachtet, und immer habe ich bei der Bewegung meines Auges nach der Seite gesehen, daß das hintere Bild des Fensters, der Sonne oder der Kerze am Rande der Kugel rot verschwindet. Beim Sonnen- und Kerzenlicht habe ich bemerkt, daß das hintere Bild sich auch nach der Seite in der Kugel bei h abspiegelt und daß die Farben erscheinen, wenn man so weit zur Seite schreitet, daß beide Bilder sich (bei g) übereinander schieben, und zwar löst sich die ganze Erscheinung in Rot auf, sobald beide Bilder sich decken; bei fernerem Fortschreiten verschwindet damit das Phänomen.

Es ist offenbar, daß bei dem gewöhnlichen Tageslicht dasselbe vorgeht, nur erscheint hierbei das zweite Spiegelbild h nicht recht deutlich, weil das Fenster ein zu großes Bild macht und daher das zweite Spiegelbild bei diesem Experiment auf der gebogenen Kugelfläche sich in einen unförmlichen Lichtschimmer auflöst. Die Sonnenscheibe und die Kerzenflamme hingegen erscheinen in ganz entschiedenen Bildern. Man sieht das vordere a, welches sich bei dem Zurseiteschreiten nur wenig bewegt, und die beiden hintern Bilder f und h, welche sich, je nachdem man fortschreitet, gegeneinander bewegen und endlich farbig übereinander schieben, bis sie sich gänzlich decken und rot verschwinden.

Ferner habe ich die Kugel auf die Erde gestellt und das Bild der Sonne oder der daneben gestellten Kerze darauf fallen lassen, indem ich im rechten Winkel nahe an die Kugel trat.

Das weiße Bild a erschien dann nicht weit von dem Hals der Kugel f, und in b zeigte sich ein farbiges Spektrum, welches bei der Bewegung nach d blau und bei der Bewegung nach e rot verschwand. Um das Experiment am bequemsten zu machen, stellte ich mich in die Nähe eines Tisches, auf dessen Ecke ich mich stützen konnte, so daß ich stehen bleiben durfte und nur den Oberleib nach den beiden Seiten hin oder leise vorwärts und rückwärts zu bewegen brauchte.

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Das Spektrum scheint auch hier nicht auf einem einfachen Bilde zu beruhen, welches durch einen Teil der Glaskugel gebrochen wird, sondern es scheint, daß man hier gleich zwei übereinander geschobene Bilder sieht; denn als ich das Experiment mit Kerzenlicht machte, zeigten sich nach dem Verschwinden des blauen Lichts zwei auseinandergehende schwache Bilder. Daß ich dieses beim Sonnenlicht nicht gesehen, mag daher rühren, weil bei dem weißeren Licht der Sonne die reflektierten Spiegelbilder im Gegensatz gegen das sehr glänzende Spektrum weniger ansprechend erscheinen, als bei dem orangefarbenen Kerzenlicht.

Genug, ich habe mich mit der Glaskugel vielfältig befreundet und erkenne darin einen sehr belehrenden Repräsentanten des Regentropfens, so daß die Gedanken nun schon zum Regenbogen eilen. Ich halte sie zurück, um Ihrer Belehrung nicht vorzugreifen, die mir erst die gehörige Sicherheit zum Weiterschreiten geben oder mir zeigen wird, daß ich auf dem Weg des Irrtums bin. Es wird mich unendlich freuen, wenn Sie mich über diese wunderbar anziehende Naturerscheinung einmal zur Klarheit bringen. Was die gewöhnlichen Naturforscher darüber zu sagen wissen, ist gar unbefriedigend.

München, am 2. Februar 1832      Sulpiz Boisserée