Goethes Naturwissenschaft: Physiognomische Diagnosen

Rameau

775. Lavaters Physiogn. Fragmente, I 26

rameau

 

Sieh diesen reinen Verstand! – ich möchte nicht das Wort Verstand brauchen. -Sieh diesen reinen, richtigen, gefühlvollen Sinn, ders ist ohne Anstrengung, ohne mühseliges Forschen; und sieh dabei diese himmlische Güte!

Die vollkommenste, liebevollste Harmonie hat diese Gestalt ausgebildet. Nichts Scharfes, nichts Eckiges an dem ganzen Umrisse; alles wallt, alles schwebt ohne zu schwanken, ohne unbestimmt zu sein. Diese Gegenwart wirkt auf die Seele wie ein genialisches Tonstück, unser Herz wird dahingerissen, ausgefüllt durch dessen Liebenswürdigkeit, und wird zugleich festgehalten, in sich selbst gekräftigt, und weiß nicht warum? – Es ist die Wahrheit, die Richtigkeit, das ewige Gesetz der stimmenden Natur, die unter der Annehmlichkeit verborgen liegt.

Sieh diese Stirne! diese Schläfe! in ihnen wohnen die reinsten Tonverhältnisse. Sieh dieses Auge! es schaut nicht, bemerkt nicht, es ist ganz Ohr, ganz Aufmerksamkeit auf innres Gefühl. Diese Nase! Wie frei! wie fest! ohne starr zu sein – und dann, wie die Wange von einem genüglichen Gefallen an sich selbst belebt wird und den lieben Mund nach sich zieht! und wie die freundlichste Bestimmtheit sich in dem Kinne rundet! Dieses Wohlbefinden in sich selbst, von umherblickender Eitelkeit und von versinkender Albernheit gleichweit entfernt, zeugt von dem innern Leben dieses trefflichen Menschen.

Vier männliche Silhouetten

blosse Umrisse in Ovalen

775 Lavaters Physiogn. Fragmente, 11 12

1. Reine Erkenntniskraft ohne hohen Scharf- und Tiefsinn. Viel feine Beurteilung, Geschmack, gefällige Sprache. Demut mit allen verwandten Eigenschaften…

2. Richtiger, scharfer Verstand, Zutrauen zu sich selbst, ohne genug Kraft, Liebe und Güte, daher leicht in leere Eitelkeit ausartend. Man vergleiche den obern und untern Teil des Kopfes, wie viel jener verspricht, wie wenig dieser hält; wie alles, was oben vordringt, teilzunehmen und zu wirken scheint, schon in der Nase zu Gleichgültigkeit übergeht und unten in kalte Selbstigkeit absinkt…

3. Hat eine allgemeine Gedehntheit der Züge; nichts Schiefes, aber auch nichts Kräftiges. Eine reine, gute, in sich selbst wohnende Seele…

4. Festigkeit und kräftige Gewißheit seiner selbst bis zum Trutz ohne Eitelkeit. Die Verhältnisse der Dinge zu sich fühlt er richtig; daher unbeweglich in Meinungen. Anteil, Liebe, Güte, nicht im allgemeinen, aber auch desto treuer, wohin er sich bestimmt hat…

Brutus

775. ,Lavaters Physiogn. Fragmente‘ II 25

Welche Kraft ergreift dich mit diesem Anblicke! Schau die unerschütterliche Gestalt! Diesen ausgebildeten Mann, und diesen zusammengeknoteten Drang. Sieh das ewige Bleiben und Ruhen auf sich selbst. Welche Gewalt und welche Lieblichkeit! Nur der mächtigste und reinste Geist hat diese Bildung ausgewirkt.

Eherner Sinn ist hinter der steilen Stirne befestigt, er packt sich zusammen und arbeitet vorwärts in ihren Höckern, jeder wie die Buckeln auf Fingals Schild von heischendem Schlacht- und Tatengeiste schwanger. Nur Erinnerung von Verhältnissen großer Taten ruht in den Augenknochen, wo sie durch die Naturgestalt der Wölbungen zu anhaltendem, mächtig wirksamen Anteil zusammengestrengt wird. Doch ist für Liebe und Freundschaft in der Fülle der Schläfe ein gefälliger Sitz überblieben. – Und die Augen! dahinblickend. Als des Edlen, der vergebens die Weit außer sich sucht, deren Bild in ihm wohnt, zürnend und teilnehmend. Wie scharf und klug das obere Augenlid; wie voll, wie sanft das untere! Welche gelinde kraftvolle Erhabenheit der Nase! Wie bestimmt die Kuppe, ohne fein zu sein, und die Größe des Nasenloches und des Nasenläppchens, wie lindert sie das Angespannte des übrigen! Und eben in diesen untern Teilen des Gesichts wohnt eine Ahnung, daß dieser Mann auch Sammlung gelassener Eindrücke fähig sei. In der Ableitung des Muskels zum Munde herab schwebt Geduld, in dem Munde ruht Schweigen, natürliche liebliche Selbstgelassenheit, die feinste Art des Trutzes. Wie ruhig das Kinn ist, und wie kräftig ohne Gierigkeit und Gewaltsamkeit sich so das Ganze schließt!

brutusBetrachte nun den äußern Umriß! Wie gedrängt markig!

 

Und wiederholt die Ehernheit der Stirne, die Wirksamkeit des Augenknochens, den gefällig festen Raum an der Seite des Auges, sie Stärke der Wangen, die Fülle des Mundes und des Kinns anschließende Kraft!

Ich habe geendigt, und schaue wieder, und fange wieder von vorne an!

Mann verschlossener Tat! langsam reifender, aus tausend Eindrücken zusammen auf einen Punkt gewirkter, auf einen Punkt gedrängter Tat! In dieser Stirne ist nichts Gedächtnis, nichts Urteil, es ist ewig gegenwärtiges, ewig wirkendes, nie ruhendes Leben, Drang und Weben! Welche Fülle in den Wölbungen aller Teile! wie angespannt das Ganze! Dieses Auge faßt den Baum bei der Wurzel.

Über allen Ausdruck ist die reine Selbstigkeit dieses Mannes. Beim ersten Anblicke scheint was Verderbendes dir entgegen zu streben. Aber die treuherzige Verschlossenheit der Lippen, die Wangen, das Auge selbst! – Groß ist der Mensch, in einer Welt von Großen. Er hat nicht die hinlässige Verachtung des Tyrannen, er hat die Anstrengung dessen, der Widerstand findet, dessen, der sich im Widerstande bildet; der nicht dem Schicksale, sondern großen Menschen widerstrebt; der unter großen Menschen geworden ist. Nur ein Jahrhundert von Trefflichen konnte den Trefflichsten durch Stufen hervorbringen.

Er kann keinen Herrn haben, kann nicht Herr sein. Er hat nie seine Lust an Knechten gehabt. Unter Gesellen mußt er leben, unter Gleichen und Freien. In einer Welt voll Freiheit edler Geschöpfe würd er in seiner Fülle sein. Und daß das nun nicht so ist, schlägt im Herzen, drängt zur Stirne, schließt den Mund, bohrt im Blicke! Schaut hier den gordischen Knoten, den der Herr der Weit nicht lösen konnte.