Goethes Naturwissenschaftliche Schriften: Einwirkung

EINWIRKUNG DER NEUERN PHILOSOPHIE

Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ; nur die fortdauernde Gegenwirkung, womit ich der eindringenden Welt zu widerstehen und sie mir anzueignen genötigt war, mußte mich auf eine Methode führen, durch die ich die Meinungen der Philosophen, eben auch als wären es Gegenstände, zu fassen und mich daran auszubilden suchte. Bruckers Geschichte der Philosophie liebte ich in meiner Jugend fleißig zu lesen, es ging mir aber dabei wie einem, der sein ganzes Leben den Sternhimmel über seinem Haupte drehen sieht, manches auffallende Sternbild unterscheidet, ohne etwas von der Astronomie zu verstehen, den großen Bären kennt, nicht aber den Polarstern.

Über Kunst und ihre theoretischen Forderungen hatte ich mit Moritz, in Rom, viel verhandelt; eine kleine Druckschrift zeugt noch heute von unserer damaligen fruchtbaren Dunkelheit. Fernerhin bei Darstellung des Versuchs der Pflanzenmetamorphose mußte sich eine naturgemäße Methode entwickeln; denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern mußte, indem ich sie gewähren ließ, die Wege und Mittel anerkennen, wie sie den eingehülltesten Zustand zur Vollendung nach und nach zu befördern weiß. Bei physischen Untersuchungen drängte sich mir die Überzeugung auf, daß bei aller Betrachtung der Gegenstände die höchste Pflicht sei, jede Bedingung, unter welcher ein Phänomen erscheint, genau aufzusuchen und nach möglichstes Vollständigkeit der Phänomene zu trachten, weil sie doch zuletzt sich aneinander zu reihen oder vielmehr übereinander zu greifen genötigt werden und vor dem Anschauen des Forschers auch eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben manifestieren müssen. Indes war dieser Zustand immerfort nur dämmernd, nirgends fand ich Aufklärung nach meinem Sinne. denn am Ende kann doch nur ein jeder in seinem eignen Sinne aufgeklärt werden.

Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst er- schienen, sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneure, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unseren geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit unbewußter Naivetät und glaubte wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit zur Sprache kam, mochte ich mich gern auf diejenige Seite stellen, welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab allen Freunden vollkommen Beifall, die mit Kant behaupteten- wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Die Erkenntnisse a priori ließ ich mir auch gefallen, so wie die synthetischen Urteile a priori: denn hatte ich doch in meinem ganzen Leben, dichtend und beobachtend, synthetisch und dann wieder analytisch verfahren; die Systole und Diastole des menschlichen Geistes war mir, wie ein zweites Atemholen, niemals getrennt, immer pulsierend. Für alles dieses jedoch hatte ich keine Worte, noch weniger Phrasen, nun aber schien zum erstenmal eine Theorie mich anzulächlen. Der Eingang war es, der mir gefiel, ins Labyrinth selbst konnt‘ ich mich nicht wagen: bald hinderte mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nirgend gebessert.

Unglücklicherweise war Herder zwar ein Schüler, doch ein Gegner Kants, und nun befand ich mich noch schlimmer: mit Herdern konnt‘ ich nicht übereinstimmen, Kanten aber auch nicht folgen. Indessen fuhr ich fort, der Bildung und Umbildung organischer Naturen ernstlich nachzuforschen, wobei mir die Methode, womit ich die Pflanzen behandelt, zuverlässig als Wegweiser diente. Mir entging nicht, die Natur beobachte stets analytisches Verfahren, eine Entwicklung aus einem lebendigen, geheimnisvollen Ganzen, und dann schien sie wieder synthetisch zu handeln, indem ja völlig fremdscheinende Verhältnisse einander angenähert und sie zusammen in eins verknüpft wurden. Aber und abermals kehrte ich daher zu der Kantischen Lehre zurück; einzelne Kapitel glaubt‘ ich vor andern zu verstehen und gewann gar manches zu meinem Hausgebrauch.

Nun aber kam die Kritik der Urteilskraft mir zuhanden, und dieser bin ich eine höchst frohe Lebensepoche schuldig. Hier sah ich meine disparatesten Beschäftigungen nebeneinander gestellt, Kunst- und Naturerzeugnisse eins behandelt wie das andere; ästhetische und teleologische Urteilskraft erleuchteten sich wechselsweise.

Wenn auch meine Vorstellungsart nicht eben immer dem Verfasser sich zu fügen möglich werden konnte, wenn ich hie und da etwas zu vermissen schien, so waren doch die großen Hauptgedanken des Werks meinem bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog; das innere Leben der Kunst sowie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus war im Buche deutlich ausgesprochen. Die Erzeugnisse dieser zwei unendlichen Welten sollten um ihrer selbst willen da sein, und was nebeneinander stand, wohl füreinander, aber nicht absichtlich wegen einander.

Meine Abneigung gegen die Endursachen war nun geregelt und gerechtfertigt; ich konnte deutlich Zweck und Wirkung unterscheiden, ich begriff auch, warum der Menschenverstand beides oft verwechselt. Mich freute, daß Dichtkunst und vergleichende Naturkunde so nah miteinander verwandt seien, indem beide sich derselben Urteilskraft unterwerfen. Leidenschaftlich, angeregt ging ich auf meinen Wegen nur desto rascher fort, weil ich selbst nicht wußte, wohin sie führten, und für das, was und wie ich mir’s zugeeignet hatte, bei den Kantianern wenig Anklang fand. Denn ich sprach nur aus, was in mir aufgeregt war, nicht aber, was ich gelesen hatte. Auf mich selbst zurückgewiesen, studierte ich das Buch immer hin und wieder. Noch erfreuen mich in dem alten Exemplar die Stellen, die ich damals anstrich, sowie dergleichen in der Kritik der Vernunft, in welche tiefer einzudringen mir auch zu gelingen schien – denn beide Werke, aus einem Geist entsprungen, deuten immer eins aufs andere. Nicht ebenso gelang es mir, mich den Kantischen anzunähern: sie hörten mich wohl, konnten mit aber nichts erwidern noch irgend förderlich sein. Mehr als einmal begegnete es mir, daß einer oder der andere mit lächelnder Verwunderung zugestand: es sei freilich ein Analogon Kantischer Vorstellungsart, aber ein seltsames.

Wie wunderlich es denn auch damit gewesen sei, trat erst hervor, als mein Verhältnis zu Schillern sich belebte. Unsere Gespräche waren durchaus produktiv oder theoretisch, gewöhnlich beides zugleich: er predigte das Evangelium der Freiheit, ich wollte die Rechte der Natur nicht verkürzt wissen. Aus freundschaftlicher Neigung gegen mich, vielleicht mehr als aus eigner Überzeugung, behandelte er in den ästhetischen Briefen die gute Mutter nicht mit jenen harten Ausdrücken, die mit den Aufsatz über Anmut und Würde so verhaßt gemacht hatten. Weil ich aber, von meiner Seite hartnäckig und eigensinnig, die Vorzüge der griechischen Dichtungsart, der darauf gegründeten und von dort herkömmlichen Poesie nicht allein hervorhob, sondern sogar ausschließlich diese Weise für die einzig rechte und wünschenswerte gelten ließ: so ward er zu schärferem Nachdenken genötigt, und eben diesem Konflikt verdanken wir die Aufsätze über naive und sentimentale Poesie. Beide Dichtungsweisen, sollten sich bequemen, einander gegenüberstehend sich wechselsweise gleichen Rang zu vergönnen.

Er legte hierdurch den ersten Grund zur ganzen neuen Ästhetik: denn hellenisch und romantisch und was sonst noch für Synonymen mochten aufgefunden werden, lassen sich alle dorthin zurückführen, wo vom Übergewicht reeller oder ideeller Behandlung zuerst die Rede war.

Und so gewöhnt‘ ich mich nach und nach an eine Sprache, die mir völlig fremd gewesen und in die ich mich um desto leichter finden konnte, als ich durch die höhere Vorstellung von Kunst und Wissenschaft, welche sie begünstigte, mir selbst vornehmer und reicher dünken mochte, da wir andern vorher uns von den Popularphilosophen und von einer andern Art Philosophen, der ich keinen Namen zu geben weiß, gar unwürdig mußten behandeln lassen.

Weitere Fortschritte verdank‘ ich besonders Niethammern, der mit freundlichster Beharrlichkeit mir die Haupträtsel zu entsiegeln, die einzelnen Begriffe und Ausdrücke zu entwickeln und zu erklären trachtete. Was ich gleichzeitig und späterhin Fichten, Schellingen, Hegeln, den Gebrüdern von Humboldt und Schlegel schuldig geworden, möchte künftig dankbar, zu entwickeln sein, wenn in gegönnt wäre, jene für mich so bedeutende Epoche, das letzte Zehend des vergangenen Jahrhunderts, von meinem Standpunkte aus, wo nicht darzustellen, doch anzudeuten, zu entwerfen.