Goethes Naturwissenschaftliche Schriften: Güte

Vorschlag zur Güte

Die Natur gehört sich selbst an, Wesen dem Wesen; der Mensch gehört ihr, sie dem Menschen. Wer mit gesunden, offnen, freien Sinnen sich hineinfühlt, übt sein Recht aus, ebenso das frische Kind als der ernsteste Betrachter. Wundersam ist es daher, wenn die Naturforscher sich im ungemessenen Felde den Platz untereinander bestreiten und eine grenzenlose Welt sich wechselsweise verengen möchten.

Erfahren, schauen, beobachten, betrachten, verknüpfen, entdecken, erfinden sind Geistestätigkeiten, welche tausendfältig, einzeln und zusammengenommen, von mehr oder weniger begabten Menschen ausgeübt werden. Bemerken, sondern, zählen, messen, wägen sind gleichfalls große Hülfsmittel, durch welche der Mensch die Natur umfaßt und über sie Herr zu werden sucht, damit er zuletzt alles zu seinem Nutzen verwende.

Von diesen genannten sämtlichen Wirksamkeiten und vielen andern verschwisterten hat die gütige Mutter niemanden ausgeschlossen. Ein Kind, ein Idiot macht wohl eine Bemerkung, die dem Gewandtesten entgeht, und eignet sich von dem großen Gemeingut, heiter unbewußt, sein beschieden Teil zu.

Bei der gegenwärtigen Lage der Naturwissenschaft muß daher immer wiederholt zur Sprache kommen, was sie fördern und was sie hindern kann, und nichts wird förderlicher sein, als wenn jeder an seinem Platze festhält, weiß, was er vermag, ausübt, was er kann, andern dagegen die gleiche Befugnis zugesteht, daß auch sie wirken und leisten. Leider aber geschieht, wie die Sachen stehen, dies nicht ohne Kampf und Streit, indem nach Welt- und Menschenweise feindselige Kräfte wirken, ausschließende Besitzungen sich festbilden und Verkümmerungen mancher Art, nicht etwa im Verborgenen, sondern öffentlich eintreten.

Auch in diesen unsern Blättern konnte Widerspruch und Widerstreit, ja sogar heftiger, nicht vermieden werden. Weil ich aber für mich und andere einen freiern Spielraum, als man uns bisher gegönnt, zu erringen wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keinesweges verargen, wenn wir dasjenige, was unsern rechtmäßigen Forderungen entgegen steht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen uns verübte.

Damit aber desto schneller alle widerwärtige Geistesaufregung verklinge, so geht unser Vorschlag zur Güte dahin, daß doch ein jeder, er sei auch wer er wolle, seine Befugnis prüfen und sich fragen möge: was leistest du denn eigentlich an deiner Stelle und wozu bist du berufen? Wir tun es jeden Tag, und diese Hefte sind die Bekenntnisse darüber, die wir so klar und rein, als der Gegenstand und die Kräfte es erlauben, ungestört fortzusetzen gedenken.