Rudolf Virchow (1821 – 1902)

virchowArzt, Pathologe, Wissenschaftler, Sozialpolitiker

* 13. Oktober 1821 in Schivelbein (ehemals Pommern)
+ 05. September 1902 in Berlin

Rudolf Virchow wurde am 13. Oktober 1821 in Schivelbein (Hinterpommern) geboren. Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende einzige Sohn eines ständig unter Geldnöten leidenden Landwirts und Stadtkämmerers bezog 1839 als Stipendiat die berühmte Berliner Militärärzte-Akademie Pepinière, um dort Medizin zu studieren. Unter dem Dekanat seines verehrten Lehrers Johannes Müller (1801-1858), „dem berühmtesten Physiologen der Welt“, wurde der gerade 22jährige Virchow am 21. Oktober 1843 zum Doktor der Medizin promoviert. „Ich weiss nicht, ob Du mir nicht vielleicht durch Jakobi von Deinem Weine so viel zusenden könntest, als dazu gehört, 6-7 Leute in einen gelinden Rausch zu versetzen“, schrieb der stolze junge Doktor an seinen Vater.

Seit 1844 arbeitete Virchow als Assistent des Pathologisch-Anatomischen Prosektors Robert Froriep (1804-1861) an der Berliner Charité. Was eher als berufliche Notlösung begonnen hatte, wurde für Rudolf Virchow jedoch bald zur faszinierenden Passion: Die makroskopische und mikroskopische Durchdringung des pathologisch-anatomischen Substrats erschien dem jungen Gelehrten schon 1845 als der ideale Weg, um „das Bedürfnis und die Richtigkeit einer Medizin vom mechanischen Standpunkt“ nicht nur zu artikulieren, sondern auch wissenschaftlich zu begründen. Im Mai 1846 wurde Virchow, der soeben sein medizinisches Staatsexamen abgelegt hatte, nach dem Weggang Frorieps dessen Nachfolger als Leiter der Charité-Prosektur. Damit hatte er nicht mehr nur eine visionäre Idee, sondern auch einen festen Arbeitsplatz. Jetzt begann er systematisch, die Medizin auf ein neues, naturwissenschaftliches Fundament zu stellen; gleichsam als Nebenprodukt etablierte er dabei während der folgenden beiden Jahrzehnte eine in Deutschland neue akademische Disziplin: die Pathologie.

„Die naturwissenschaftliche Frage ist die logische Hypothese, welche von einem bekannten Gesetz durch Analogie und Induction weiterschreitet; die Antwort darauf giebt das Experiment, welches in der Frage selbst vorgeschrieben liegt. … Die Naturforschung setzt also Kenntniss der Thatsachen, logisches Denken und Material voraus; diese drei, in methodischer Verknüpfung, erzeugen die Naturwissenschaft“. Diese programmatischen Sätze formulierte der junge Berliner Pathologe im Dezember 1847 im Rahmen eines Vortrags, den er erst 1849 im zweiten Band des von ihm 1847 begründeten und bis 1902 von ihm herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin publizierte.

In der Zwischenzeit nämlich war einiges geschehen: Im Jahr der gescheiterten Märzrevolution 1848 stand Rudolf Virchow politisch auf der Seite der linksliberalen Reformer, beteiligte sich sogar in Berlin am Bau einer Barrikade. Das intellektuelle Kampfgetümmel lag ihm jedoch weit mehr. Von Juli 1848 bis Juni 1849 gab er (1848 zusammen mit Rudolf Leubuscher) ein weiteres Journal heraus, diesmal jedoch ging es um eine sozialpolitische Wochenschrift mit dem Titel Die medicinische Reform. Und hier offenbarte sich die für ihn selbst logisch notwendige und politisch folgerichtige Komplementärseite des Naturwissenschaftlers Virchow. So schrieb er am 3. November 1848: „Wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr Anhänger fand, als unter den Aerzten? dass überall auf der äussersten Linken, zum Theil an der Spitze der Bewegung, Aerzte stehen? die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen“.

Zu dieser Auffassung hatten Virchow nicht zuletzt eben jene wissenschaftlichen Beobachtungen geführt, die er im Auftrag der Preussischen Regierung im Februar/März 1848 bei der Fleckfieber-Epidemie in Oberschlesien gemacht hatte. Virchow beschuldigte die preussische Beamtenschaft als einen wesentlichen pathogenen Faktor für die Verbreitung der Seuche: „Waren doch die Beamten nicht von dem Volk für das Volksinteresse, sondern von dem Polizeistaat für das Staatsinteresse eingesetzt“. Nicht milder beurteilte er die Rolle der katholischen Kirche, die ihm zeitlebens ein Feindbild bleiben sollte; Virchows Fazit: „Soll die Schule irgend gedeihen, so muss sie ganz und ohne Rückhalt dem Klerus entzogen werden und an die Stelle pfäffischer Überlieferung ein freisinniger Unterricht treten, dessen Grundlage die positive Naturanschauung bildet“.

Sein politisches Engagement machte den aufstrebenden und produktiven Wissenschaftler bei der preussischen Regierung so unbeliebt, dass er im Herbst 1849 einem Ruf auf den ersten in Deutschland bestehenden Lehrstuhl für Pathologische Anatomie an der bayerischen Universität Würzburg folgte. Nun war er der einzige deutsche Lehrstuhlinhaber in dieser jungen Disziplin. Während der folgenden sieben Jahre konzentrierte Virchow, der 1850 die gut zehn Jahre jüngere Rose Mayer heiratete und bis 1855 auch Vater dreier Kinder wurde, seine geistige Energie weniger auf die Politik als auf die institutionelle und ideelle Entwicklung der Pathologie, die er als neue Leitwissenschaft einer naturwissenschaftlichen Medizin formierte. Die morphologischen Befunde der Pathologische Anatomie sollten dabei den notwendigen, aber keineswegs hinreichenden Grundstein legen für eine darauf zu gründende Pathologische Physiologie, die Virchow stets als Ziel anvisierte.

1855 veröffentlichte er in seinem Archiv einen ersten Aufsatz mit dem Titel Cellular-Pathologie, in welchem er die Umrisse eines neuartigen Forschungsparadigmas für die Theoretische Medizin skizzierte: „Rücken wir bis an die letzten Grenzen vor, an denen es noch Elemente mit dem Charakter der Totalität oder wenn man will, der Einheit gibt, so bleiben wir bei den Zellen stehen. … Ich kann nicht anders sagen, als dass sie die vitalen Elemente sind, aus denen sich die Gewebe, die Organe, die Systeme, das ganze Individuum zusammensetzen“. Das heuristisch fruchtbare und deshalb auch heute noch diskutierte Konzept der Zellularpathologie sah die Zelle als morphologisch wie funktionell kleinste autonome Einheit des gesunden und kranken Lebens an, wodurch Pathologische Anatomie und Pathologische Physiologie einen gemeinsamen Ansatzpunkt erhielten.

Als 1858 die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre schliesslich in monographischer Form erschien, arbeitete Rudolf Virchow längst wieder in Berlin. Seit 1856 war er nämlich Direktor des neugegründeten Pathologischen Instituts der Charité, das eigens für ihn und seine Mitarbeiter errichtet worden war. Der preussische Staat hatte endlich seine politischen Bedenken hintangestellt und Virchow die akademische Position angeboten, die ihm zustand. 46 Jahre lang bis zu seinem Tod am 5. September 1902 war er nun Chef dieses nach kurzer Zeit weltberühmten Instituts, das rasch zum geistigen Zentrum der Pathologie und der wissenschaftlichen Medizin wurde.

Natürlich gab es bald auch inhaltliche Debatten und Kontroversen: Da für Virchow die Reaktion der Zelle auf exogene Stimuli der für Gesundheit und Krankheit entscheidende Faktor war, blieb er stets sehr reserviert gegenüber der seit den 1870er Jahren aufkommenden Bakteriologie, die bestimmte Mikroorganismen als spezifische, d.h. notwendige und hinreichende Krankheitsursachen ansah. Und lediglich als kluge Hypothese bewertete er die nicht zweifelsfrei beweisbare Evolutionstheorie (1859) von Charles Darwin (1809-1882). In beiden Fällen blieb Virchow der zurückhaltende Skeptiker, der den einmal als richtig erkannten Weg der nüchternen Tatsachenforschung nicht verlassen wollte.

Zunehmend faszinierte ihn nun auch wieder die Politik: Seit 1859 war Rudolf Virchow Berliner Stadtverordneter, 1861 gehörte er zu den Mitbegründern der linksliberal-antiklerikalen Deutschen Fortschrittspartei, 1862 wurde er Mitglied des Preussischen Landtages, und von 1880 bis 1893 war er Reichstagsabgeordneter. Obgleich sonst ein erbitterter Gegner Bismarcks, popularisierte Virchow 1873 den gegen die katholische Kirche gerichteten Begriff Kulturkampf. Schon 1871 hatte er gesagt: „Jeder Fortschritt, den eine Kirche in dem Aufbau ihrer Dogmen macht, führt zu einer … Bändigung des freien Geistes; jedes neue Dogma … verengt den Kreis des freien Denkens … Die Naturwissenschaft umgekehrt befreit mit jedem Schritte ihrer Entwickelung … Sie gestattet … dem Einzelnen in vollem Maasse wahr zu sein“.

Virchow starb am 5. September 1902 in Berlin.